Noah

Harry grinst von einem Ohr zum anderen, als ich an diesem Morgen das Studio betrete. Nach fast zweieinhalb Wochen Aufnahmen kommt mir das Studio hier schon vertrauter vor als das Wohnzimmer zu Hause, was allerdings auch kein Wunder ist. Nach wie vor bin ich mit Dad allein in der Villa, vom Dienstpersonal mal abgesehen, und auch wenn wir uns dank unserer jeweiligen Termine kaum sehen, stelle ich mit jeder Minute, die wir gemeinsam verbringen, fest, wie wenig wir uns zu sagen haben.
Umso mehr bin ich mit den Jungs in den letzten Tagen zusammengewachsen.
Mehr noch als auf Tour, wo ja jeder von uns sein eigenes Hotelzimmer hat. Wobei Andys stürmische Begrüßung, als ob wir uns ewig nicht gesehen hätten, schon etwas seltsam ist.
„Hey, Noah. Was geht?“, ruft er schwungvoll und zieht mich in eine herzliche Umarmung.
„Äh“, antworte ich wenig geistreich. Aber ich habe auch erst einen kleinen Kaffee gehabt, da darf Andy von mir noch keine großartige Konversation erwarten.
„Setz dich, es gibt eine Überraschung.“
Angesichts von Andys leuchtenden Augen, die gegen jeden Kinderblick am Weihnachtsmorgen problemlos anstinken könnten, muss ich lachen. Es passt so gar nicht zu dem Badboy-Image, das er nach außen verkörpert.
„Was’n los?“, frage ich, während Suma mich aufs Sofa schubst und Dom mir mit strahlendem Lächeln eine Tasse Kaffee überreicht. Bin ich hier bei Versteckte Kamera oder habe ich meinen Geburtstag vergessen? Irgendetwas stimmt doch nicht.
„Entspann dich“, sagt Harry. „Wir wollen euch etwas vorspielen.“
Dom verschwindet im Regieraum und kurz darauf dringen Klavierklänge aus den Lautsprecherboxen, sanft perlend. Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus. Das ist doch … Ich setze mich kerzengerade auf, als das metallische Klirren eines Mark Trees erklingt und zusätzlich ein Bass einsetzt. Ich spüre Liams, Sumas und Andys Blicke auf mir ruhen und schließe rasch die Augen. Das hier muss ich jetzt erstmal verarbeiten und für mich genießen.
Mein Song, komplett arrangiert und eingespielt. Ich verfolge die Takte, füge gedanklich meine Lyrics ein, und sehe dabei Kristina so deutlich vor mir, dass ich mich zusammenreißen muss, nicht die Hand nach ihr auszustrecken. Das könnte peinlich werden vor den anderen.
No words were spoken, none were needed
Still, my heart finally felt kind of completed.
Die erste Strophe ist vorbei, es folgt die Bridge und mein Herz schlägt unwillkürlich einen Salto, weil die verarbeitete Variation des Volkslieds von Kristina, so genial in den Song passt, als müsste es genau dort sein. Es ist perfekt. Einfach nur perfekt.
Ich lasse mich in die Musik fallen, sehe vor meinem inneren Auge Kristina am Klavier, den Tanz ihrer Finger auf den Tasten, sie lächelt. Wenn sie jetzt wirklich hier wäre, ich schwöre, ich würde sie an der Hand nehmen und mit ihr tanzen, zu ihrem Lied.
Dröhnende Stille bleibt zurück, als das Lied endet. Mein Traumbild verschwimmt, bis es schließlich erlischt, und benommen öffne ich die Augen.
Andy grinst mich an, Suma schaut vorfreudig, als könne er es kaum erwarten, loszutanzen, Liam lehnt mit in den Nacken gelegtem Kopf auf dem Sofa, auch auf seinem Gesicht liegt ein Lächeln.
Harry sieht abwechselnd von einem zum anderen und bleibt schließlich an mir hängen.
„Und, was sagt ihr?“
Keiner der anderen sagt etwas. Da es mein Song ist, lassen sie mir den Vortritt. Ein paar Mal öffne und schließe ich den Mund, bis ich etwas sagen kann.
„Wow.“ Mehr geht gerade nicht. Andy, Suma und Liam halten sich ebenfalls noch zurück, was Harry als Zustimmung zu meiner einsilbig vorgebrachten Begeisterung wertet.
„Es gefällt euch also.“
„Gefallen?“ Ich lege die Fingerspitzen an die Schläfen und schüttle den Kopf. „Harry, das ist einfach nur geil. Wie habt ihr das so schnell geschafft?“
Es ist erst eine Woche her, dass ich den Jungs meinen Song vorgespielt habe, und da war er noch sehr im Rohbau. Jetzt fehlen nur noch die Gesangparts.
Harry lächelt geheimnisvoll. „Für richtig gute Songs, kann man kurzfristig auch richtig gute Leute gewinnen.“
„Danke“, sage ich und glaube, dass ich es noch nie so aufrichtig gemeint habe. Dass Harry und Dom so an meinen Song glauben und sich deshalb dafür ins Zeug gelegt haben, bedeutet mir sehr viel.
„Seid ihr bereit, die Gesänge aufzunehmen“, fragt Dom, der grinsend mit seinem Kaffee am Türrahmen lehnt, als ob er auf den Bus warten würde.
Liam nickt. „Klar. Aber ich finde, wir sollten nur beim Refrain mitsingen. Die Strophen gehören Noah.“
Überrascht sehe ich ihn an. Obwohl ich den Song geschrieben habe, ist es keinesfalls selbstverständlich, dass ich auch den Hauptpart singe. Einige von Liams komponierten Liedern haben Harry und Dom strophenweise an uns verteilt. Sie haben einen Plan für unsere Band, sie entscheiden, wer was singt, um eine bestimmte Message rüberzubringen. Wir hatten dabei bislang wenig mitzureden. Aber Dom sieht nicht so aus, als wolle er Liam widersprechen.
„Da sind wir schon zu dritt“, sagt Harry. „Dann mach dich bereit, Noah. Übrigens, Scott ist schon in Kontakt mit den Autoren für das Musikvideo. Wir planen den Song als zweite Singleauskopplung für das Album.“
Gerade wollte ich vom Sofa aufstehen, jetzt sinke ich nach Luft schnappend in die Polster zurück. Harry hat diesen zweiten Satz so lapidar daher gesagt, als wäre es völlig nebensächlich. Ich habe mich kaum mit dem Gedanken abgefunden, dass die anderen eine meiner Kompositionen gut finden, da ist der Song schon fertig arrangiert und soll gleich so viel Aufmerksamkeit bekommen? Das ist zu viel für meinen Kopf.
Andy streckt mir seine Faust entgegen und ich schlage meine etwas wackelig dagegen. Grinsend zieht er eine Schachtel Zigaretten aus Hosentasche und klopft mir gegen den Oberarm. „Dann sing mal schön, mach mir keine Schande, Junge“, sagt er grinsend und verzieht sich mit Suma und Liam nach draußen.
Ich bin froh, dass sie mir nicht beim Aufnehmen meines Solos zusehen. Als ich in der Aufnahmekammer stehe und über Kopfhörer zum zweiten Mal die Klavierstimme und den Mark Tree höre, bin ich trotzdem so geflasht, dass mir beinahe die Tränen kommen und ich prompt meinen Einsatz verpasse.
„Sorry“, nuschle ich, den Blick nach unten gerichtet. Ich bin mir nicht sicher, ob es nicht doch feucht in meinen Augen glitzert.
„Kein Problem. Lass dir Zeit“, teilt Dom mir über Mikro mit.
Okay, irgendetwas kann hier tatsächlich nicht stimmen. Es kommt mir vor wie ein Traum. Wenn ich in dem letzten Jahr, seit wir mit Five2Seven unterwegs sind, eines eingetrichtert bekommen habe, dann, dass wir nie genug Zeit haben. Sogar in den letzten Tagen haben Harry und Dom regelmäßig auf die Einhaltung unseres Zeitplans geachtet. Wann klingelt der Wecker und reißt mich aus dieser Illusion, die zu schön ist, um wahr zu sein?
Aber kein Wecker klingelt. Stattdessen startet der Song erneut. Ich nehme mein Handy, wobei meine Hand noch etwas zittert, und öffne den Text. Nach zwei weiteren verkackten und vier guten Durchläufen habe ich es geschafft. Dom nickt und hebt den Daumen. Erleichtert atme ich aus und setze die Kopfhörer ab.
Viele Stunden später bin ich auf angenehme Art erschöpft.
Mein Hals ist rau und signalisiert mir deutlich, dass es für heute mit singen reicht, und auch mein übriger Körper möchte sich einfach nur noch lang aufs Bett werfen. Trotzdem bin ich gut gelaunt wie schon lang nicht mehr.
Suma, Liam und Andy haben beim Refrain von meinem Song alles gegeben und waren mit Feuereifer dabei. Zwischenzeitlich haben sie so leidenschaftlich gesungen, dass ich kurz gedacht habe, sie würden mich und den Song veralbern. Aber das wollte ich ihnen dann doch nicht zutrauen. Außerdem hat Liam mir anschließend noch einmal gesagt, wie gut ihm Like a Mirror gefällt.
„Echt, Mann. Das wird ein Hit. Freut mich, dass du dich so engagierst.“
Wenn er wüsste, wem mein Engagement bei diesem Song in Wahrheit gilt. Aber ich sage nichts dazu, sondern freue mich einfach über sein Lob. Wenn ich mit Like a Mirror gleich mehrere Menschen glücklich machen kann, ist es ja umso besser.
Weil wir heute so viel geschafft haben, machen wir etwas früher als an den vergangenen Tagen Feierabend, und als ich vor unserer Villa aus dem Auto steige, freue ich mich auf ein paar Folgen irgendeiner Serie. Eigentlich würde ich auch gern Kristinas Stimme hören, aber ich fürchte, mich zu verplappern und von dem Song zu erzählen, wenn ich sie anrufe. Es ist schon schwer genug, mich beim Schreiben zurückzuhalten. Like a Mirror soll eine Überraschung für sie werden, also muss ich mich bedeckt halten, egal wie schwer es mir fällt.
Aus der Küche dringt Geklapper, und ich gehe dem Geräusch nach. Dad wirft eine Dose Ravioli in den Müll und stellt einen leeren Teller in die Spülmaschine. Als ich eintrete, sieht er auf.
„Du bist ja früh fertig heute.“
Er schafft es, den Satz wie einen Vorwurf klingen zu lassen. Als ob man immer bis tief in die Nacht schuften müsste, um berechtigterweise behaupten zu können, etwas geschafft zu haben. Aber ich will mich davon jetzt nicht runterziehen lassen, nicht nach diesem guten Tag.
„Ja, es lief super heute.“
„Na dann.“ Dad schnappt sich sein Smartphone von der Kücheninsel und wischt über das Display.
In meinem Innern beginnt es zu brodeln. Wieso kann er mir nicht einfach mal glauben oder einen Hauch von Interesse zeigen?
„Ich hab einen Song geschrieben“, sage ich, bemüht um einen lockeren Tonfall, in der Hoffnung, Dads Aufmerksamkeit zu bekommen. Doch er sieht nur mit müdem Blick vom Handy auf.
„Das machen Musiker so.“
Ich beiße mir auf die Lippen, versuche den Kommentar zu ignorieren. „Den Jungs gefällt er richtig gut und Harry und Dom haben ihn direkt arrangiert und einspielen lassen. Wir haben heute die Gesänge aufgenommen und bald drehen wir ein Video dazu. Like a mirror wird die zweite Single unseres neuen Albums.“
Mit jedem Satz bin ich schneller geworden, um alles loszuwerden, ehe er mich womöglich unterbricht. Tut er aber nicht. Dad sieht nicht einmal mehr auf.
„Wurde auch Zeit“, murmelt er. Keine Ahnung, ob das auf mich oder auf jemand anderes bezogen ist, jedenfalls hebt er im nächsten Augenblick das Handy ans Ohr und schiebt sich an mir vorbei aus der Küche.
Fassungslos starre ich auf die Stelle, wo er eben noch stand.
Das Brodeln, eben noch sehr zentriert in meiner Magengegend, drängt nun unaufhaltsam nach oben. Ich möchte schreien, aber selbst wenn ich dann vermutlich Dads Aufmerksamkeit bekommen würde, habe ich auf die zwangsläufig folgende Auseinandersetzung keinen Bock. Also schlage ich nur mit der flachen Hand gegen den Türrahmen, was sich im Nachhinein auch nicht als schlau herausstellt. Es brennt wie Feuer.
Die gute Laune ist unwiederbringlich verflogen. Seit Monaten liegt Dad mir in den Ohren, dass ich liefern und mich mehr in den Vordergrund stellen soll. Jetzt habe ich einen Song geschrieben und es interessiert ihn nicht einmal. Schlimmer noch, er setzt es als selbstverständlich voraus, dass mein Lied als Single erscheint. Spielt es für ihn überhaupt eine Rolle, was ich tue? Wie es scheint, kann ich es ihm ja ohnehin nicht recht machen.
In meinem Zimmer lasse ich mich aufs Bett fallen und starre an die Decke. Dad kann mich mal. Am besten wäre es wohl, wenn ich mir eine eigene Wohnung suche, wie jeder andere vernünftige Mensch in meinem Alter auch. Lizzy und Dan leben schließlich auch schon längst nicht mehr zu Hause. Ich bin nur wegen Marble geblieben.
Ein zusätzlicher Stich fährt mir ins Herz. Seit vier Wochen haben wir kein Wort mehr miteinander gewechselt, und, fuck, sie fehlt mir. Gerade jetzt bräuchte ich sie hier an meiner Seite. Sie könnte nichts an Dads Verhalten ändern, aber bislang hatten wir immerhin einander. Jetzt bin ich allein und das tut einfach scheiße weh.
Obwohl ich mir wenig Hoffnung auf eine Antwort mache, wähle ich Marbles Nummer. Irgendwann muss sie mir doch verzeihen. Wie erwartet nimmt sie das Gespräch nicht entgegen und ich lege nach dem fünften Freizeichen auf. Okay, dann schreibe ich ihr wenigstens.
Es tut mir leid, Marble. Bitte verzeih mir. Du fehlst mir.
Erst nachdem ich die Nachricht versendet habe, sehe ich, dass Marble das letzte Mal gestern Vormittag online war. Merkwürdig. Normalerweise hängt sie öfter am Handy.
Mit einem frustrierten Knurren stehe ich auf, um ins Bad zu gehen. Nach dieser beschissenen Wendung des Tages, ist es wohl das Beste, mir gleich die Decke über die Ohren zu ziehen.
Meine Hand liegt schon auf der Klinke, als ich unten die Haustür ins Schloss fallen und kurz darauf hektische Schritte … auf Absätzen? Ich gehe zur Treppe, nehme ein paar Stufen, sodass ich um die Kurve nach unten in den Flur schauen kann.
„Mum?“ Ich eile die Treppe hinunter.
Mum streift sich die High-Heels von den Füßen und nimmt mich kurz in den Arm. Ihr Make-Up ist nicht so perfekt wie sonst, sie wirkt gestresst und besorgt.
„Was ist los? Ich dachte, du bist mit Lizzy in New York.“
Mum streicht sich hektisch eine lose Strähne hinters Ohr. „War ich. Aber ich bin sofort in den nächsten Flieger gestiegen, als Ryan angerufen hat.“
Ich verstehe nur Bahnhof, doch ehe ich fragen kann, was los ist, kommt Dad in den Flur und Mum stürzt auf ihn zu.
„Wie geht es ihr? Hast du schon etwas Neues gehört?“
„Schon wieder besser. Sie kann morgen wieder nach Hause. Cessy ist bei ihr.“
In meinen Adern gefriert das Blut zu Eis. Sie reden von Marble. Sie ist bei Cessy zu Besuch.
„Was ist passiert?“, frage ich mit bebender Stimme. „Was ist mit Marble?“
Mum sieht irritiert zwischen Dad und mir hin und her.
„Sie hatte gestern einen heftigen Asthmaanfall. War wohl eine allergische Reaktion auf ein Lösungsmittel.“
Zum zweiten Mal heute Abend kann ich Dad nur fassungslos anstarren. Dass es Marble nicht gut geht, sie offenbar im Krankenhaus ist, sagt er mir jetzt? Auf Nachfrage, und auch nur, weil Mum dabei ist? Wieso ist er nicht längst zu ihr gefahren? Stattdessen steht er in der Küche und futtert Dosenravioli.
„Ich will zu ihr.“
„Noah, das ist unnötig.“ Dad macht einen Schritt auf mich zu, ich weiche zurück.
Weniger aus Angst, dass er mich anfassen könnte, sondern vielmehr, weil ich fürchte, ihm sonst an die Gurgel zu gehen. „Es geht ihr schon wieder besser. Und du musst morgen arbeiten.“
„Sag du mir nicht, was ich tun muss“, erwidere ich eisig und wende mich Mum zu.
Sie nickt und nimmt die Autoschlüssel aus der Kommodenschublade. „Komm.“
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