Kapitel 29 - Everything is fine (we think)

Kristina

„Lass mich auch endlich gucken.“ Johnny versucht, mir den Probedruck des Booklets aus der Hand zu ziehen, aber mein Griff ist zu fest.

Piet verdreht die Augen und gibt ein theatralisches Seufzen von sich. „Kinder, streitet euch nicht. Es ist genug für alle da.“

Er zieht einen Stapel Papier hervor und reicht je ein Exemplar an Johnny, Freddy und Joshie. Auch Ben, der mir bis eben über die Schulter gesehen hat, nimmt einen Probedruck von Piet entgegen.

„Du Schuft, das hättest du auch mal früher sagen können“, empört Ben sich.

Schuft? Hat er wirklich Schuft gesagt? Ich beiße mir auf die Lippen. Manchmal nutzt Ben seltsame Wörter.

 

Piet grinst. „Klar, hätte ich. Aber es war viel zu schön, euch zuzuschauen, wie ihr euch auf die Bilder stürzt. Also, was sagt ihr?“

 

Freddy blättert durch die Seiten, nickt, lächelt und sieht schließlich auf.

 

„Richtig nice.“

 

„Tolles Artwork“, ergänzt Joshie.

 

Ich nicke bestätigend, während ich ein weiteres Mal das Cover des Booklets betrachte. Es ist natürlich von unserem Bandnamen samt Logo geziert, wenn auch nur dezent. Hauptmotiv ist eine Garderobe, wie wir sie oft in Konzerthallen haben, nur dass diese hier extra für das Covershooting in einem Studio nachgebaut wurde. Erst auf den zweiten Blick werden Details sichtbar, die etwas stören. Der umgekippte Pappbecher mit Kaffeefleck auf dem Frisiertisch, das Paar Schuhe mitten im Raum, das Gitarrenkabel, das über einer Stuhllehne hängt. In einer Ecke des Raums steht ein Spiegel, in dem wir zu sehen sind. Ein Hoch auf die Bildbearbeitung, es sieht wirklich so aus, als würden wir auf der anderen Seite des Raumes stehen und uns spiegeln. Am Spiegel hängt ein DIN-A4-Zettel, auf dem der erste Teil des Albumtitels steht. Everything is fine. Darunter, handschriftlich gekritzelt (we think). Nach unserem Debütalbum The Crowd & The Quiet wirkt dieses Cover fast schon voll. Aber ich mag es. Vor allem, dass ein paar Elemente, wie der Pappbecher und das Gitarrenkabel vom ersten Cover auch jetzt wieder auftauchen.

 

Johnny tippt geräuschvoll auf eine Seite. „Die Fotos sind cool geworden.“

 

Er ist schon auf einer der Innenseiten des Booklets angekommen, während ich noch immer auf das Cover starre und mich in den Details verliere. Ich blättere weiter. Neben den Songtexten sind von jedem von uns Portraitbilder in das Booklet integriert, wieder als stilisiertes Spiegelbild. Johnny wie immer mit Hand am Schirm seiner Mütze, den Blick in die Ferne gerichtet, Freddy mit einem Gitarrenplek zwischen den Lippen. Joshie schaut zwischen gekreuzten Drumsticks in die Kamera und Ben hat den Blick gesenkt, vermutlich, weil er gerade aufs Handy schaut, was man im Bild aber nicht mehr sieht.

 

Alles irgendwie typische Bilder von uns, die mich zum Schmunzeln bringen. Mein Bild zeigt mich mit leicht schräggelegtem Kopf, den Blick gedankenverloren gesenkt, eine Hand an einem meiner aufgedrehten Buns. Eine Momentaufnahme, wie die anderen auch, trotzdem fühle ich mich irgendwie ertappt. Seit zwei Jahren trage ich meine Haare in der Öffentlichkeit nicht anders als zu aufgedrehten Buns, aber sie stören mich noch immer, weshalb ich mich ständig am Kopf kratze oder prüfe, ob noch alles sitzt. Wieso habe ich mir damals keine andere Frisur überlegt?

 

„Kann man so lassen.“ Bens Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Die anderen nicken zustimmend und ich tue es ihnen nach. Piet sieht zufrieden aus.

 

Während die anderen sich noch einmal über die Ausdrucke beugen, ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche, um Noah von dem Booklet zu erzählen. Vielleicht kann ich ihn damit etwas aus der Reserve locken, nachdem er in den letzten beiden Tagen so schweigsam war. Trotz Wochenende wollte er gestern nicht einmal telefonieren. Und auch jetzt hat er noch nicht auf meine Challenge des Tages reagiert. Dabei ist es schon fast Mittag. Müsste er nicht längst wach und mit Five2Seven im Studio sein?

 

Nur aus Gewohnheit öffne ich Instagram, doch auch in seinen Stories ist nichts Neues zu sehen. Dafür wird mir ein Video in den Feed gespült, das mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.

 

So romantisch war das Midsummernight-Special der Hammonds.

 

Unter dem weiß hinterlegten Titel küsst Noah ein Mädchen in einem Pavillon. Beide tragen mittelalterliche Gewänder. Aber trotz der weiten Ärmel und der Halskrause mit Rüschen erkenne ich Noah ohne jeden Zweifel. Das Mädchen in dem langen Kleid und den kunstvoll frisierten Haaren habe ich noch nie gesehen. Ein Stich fährt mir ins Herz und der Tee, den ich vorhin getrunken habe, stößt mir bitter auf.

 

Von kürzlichen Dreharbeiten mit seiner Familie hat er gar nichts erzählt und ich habe bislang dem Drang widerstanden, nach alten Clips von den Hammonds zu googeln. Noah klang nicht begeistert von dem Reality-Format seiner Familie, als er mir neulich davon erzählt hat, deshalb wollte ich nicht hinter seinem Rücken danach suchen. Aber dieser Kuss, der immer noch auf meinem Handydisplay flackert, ist kein Filmkuss, sondern sieht verdammt echt aus.

 

War Noah in den letzten Tagen deswegen so einsilbig? Weil er schon längst eine andere hat? Enttäuschung oder Eifersucht, vielleicht auch beides zusammen, flammt in mir auf, und nur durch konzentriertes Atmen, kann ich die aufsteigenden Tränen zurückhalten.

„Hier.“ Joshie stößt mich sanft am Ellenbogen und reicht mir einen Filzstift. Kurz frage ich mich, was ich damit soll, aber dann sehe ich die Pappkartons, aus denen Freddy und Piet gerade stapelweise unsere neuen Autogrammkarten auspacken. Die kommen später zusammen mit dem neuen Album und ein paar Goodies in eine limitierte Box, die unsere Fans in den letzten Monaten schon fleißig vorbestellt haben.

 

„Oh, danke“, murmle ich und stecke das Smartphone weg.

 

„Was ist los?“

 

„Nichts“, wehre ich ab.

 

Joshie hebt skeptisch eine Augenbraue, aber ich greife nach der Autogrammkarte, die Freddy mir reicht, und setze meine Namen aufs Papier.

 

„Everything is fine, we think“, murmelt Joshie.

 

Meine Finger sind wund,

 

nachdem ich ungefähr zweitausend mal meinen Namen auf Karten geschrieben habe, und ich kann kaum die Augen schließen, ohne dass automatisch das Motiv unserer Autogrammkarte vor mir auftaucht. Aber sei es drum. Die stupide Arbeit hat mich immerhin von meinen Gedanken an Noah abgelenkt.

 

Doch jetzt, da ich allein in der Wohnung bin, stürzen sie mit aller Kraft wieder auf mich ein. Ich ignoriere die Stimme der Vernunft, die unter dem Wirrwarr in meinem Kopf ohnehin nur ein leises Flüstern ist, und öffne wieder Instagram.

 

Bilde ich es mir nur ein, oder sind Noahs Followerzahlen seit vorgestern in die Höhe geschossen? Nicht, dass ich darüber Buch führen würde, aber waren es letzte Woche wirklich schon fast drei Millionen?

 

Eins ist jedenfalls sicher, unter Noahs letztem Post, einem Bild von ihm im Studio, häufen sich die Kommentare. Die meisten sind von gestern Abend oder heute. Ich überfliege die obersten, die alle denselben Tenor haben.

 

Cutie.

 

Hast du beim Singen an Fiona gedacht?

 

Fiona kann so stolz auf dich sein.

 

Ich wünschte, du würdest mich auch einmal so küssen.

 

Wie lang bist du schon mit Fiona zusammen?

 

Ich schließe die Kommentarspalte und werfe das Handy aufs Sofa. Fiona heißt sie also. Ihren Namen zu wissen, macht es nicht besser. Und wenn hätte ich ihn gern von ihm gehört. Hin und hergerissen, ob ich Noah anrufen soll, setze ich mich ans Klavier. Aber zum ersten Mal in meinem Leben kann ich nicht spielen. Das, was in mir tobt, lässt sich nicht in Töne fassen.

 

Hastig springe ich auf, umrunde den Flügel dreimal, setze mich wieder auf den Klavierhocker, lege die Finger auf die Tasten. Nach drei Akkorden breche ich wieder ab. Es hat keinen Sinn. Ich will Noah keine Szene machen, aber wenn ich dieses Gefühlschaos noch länger in mich reinfresse, werde ich wahnsinnig. Also fische ich das Smartphone zwischen den Sofakissen hervor und öffne Noahs und meinen Chat. Dass er sich heute noch gar nicht gemeldet hat, lässt meinen Zorn noch einmal neu aufflammen. Trotzdem beschränke ich mich bei meiner Nachricht auf einen Satz.

 

Küsse sind scheinbar gute PR.

 

Ich wechsle auf unser Bandprofil, lese ein paar Kommentare unter dem heutigen Reel. Ben hat mit dem Probedruck vom Booklet in die Kamera gewunken, so schnell, dass keine Details erkennbar sind, und erzählt, wie cool es aussieht. Das hat die Fans natürlich heiß gemacht.

 

Drei Wochen noch. Ich will nicht mehr warten.

 

Awwww, ich will’s auch endlich sehen.

 

Freu mich sooooo.

 

Dazu tausende Herzchen. Ich like die Kommentare. Das Antworten überlasse ich Ben.

 

Für nette Worte bin ich gerade nicht in der richtigen Stimmung.

 

Eine neue Nachricht taucht im oberen Bildschirmbereich auf. Leider nicht von Noah. Dafür von Joshie.

 

Erzähl mir nicht, dass alles klar ist. Du sahst total fertig aus. Wäre gern für dich da.

 

Ich schließe Instagram, lese Joshies Nachricht wieder und wieder. Die Hitze der Wut verwandelt sich in eine angenehme Wärme und entlockt mir ein Seufzen. Wunderbare Joshie. Ich weiß, dass ich ihr alles sagen kann, sie ist wie eine Schwester für mich und wird mich niemals hängen lassen. Wieso habe ich ihr nicht längst alles erzählt?

 

Weil immer jemand von den anderen in der Nähe war, gebe ich mir selbst sogleich die Antwort. Aber jetzt bin ich allein.

 

Obwohl es wehtut, suche ich das Video von Noah und dieser Fiona raus und leite es an Joshie weiter.

 

Nur eine Minute später ruft sie an.

 

„Shit. Was ist das? Wer ist dieses Mädel?“

 

„Sie heißt Fiona, glaube ich. Zumindest wenn ich die Kommentare unter Noahs letztem Post richtig deute“, sage ich und kann nicht verhindern, dass meine Stimme bricht.

 

„Moment, ich schau mal nach.“ Für einen Moment bleibt es still in der Leitung und ich nehme an, dass Joshie gerade auf Noahs Profil unterwegs ist. „Aber was ist das für eine Sendung? Das ist doch kein Musikvideo, oder?“

 

Ich fasse zusammen, was ich weiß, was nicht viel ist. Da ist viel mehr, das ich nicht weiß.

 

„Und Noah hat dir nichts davon erzählt?“

 

„Keine Silbe.“

 

„Ach Mensch, Kris, das tut mir so leid. Soll ich vorbeikommen?“

 

Ich wische mir eine Träne aus dem Gesicht. „Das ist lieb. Ist es okay, wenn ich zu dir komme? Ich muss hier mal raus.“

 

„Klar. Ich setz schon mal Teewasser auf.“

 

Wir legen auf und ich ziehe mir rasch ein anderes Top an. Nicht, weil es Joshie wichtig wäre. Eher, weil ich frisch und hoffnungsvoll zu Joshie aufbrechen will.

 

Doch daraus wird nichts.

 

Ich habe das Handy auf der Kommode abgelegt und schlüpfe gerade in meine Schuhe, als das Display aufleuchtet. Noah. Ich zögere. Soll ich das Gespräch annehmen? Irgendetwas in mir sträubt sich dagegen. Andererseits habe ich den ganzen Tag auf eine Nachricht von ihm gewartet. Stumm nehme ich das Gespräch entgegen.

 

„Kristina?“ Er klingt gehetzt, fast panisch. Wird er verfolgt?

 

„Noah.“

 

„Ich … fuck, ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Er atmet geräuschvoll aus.

 

„Schon komisch, da du doch angerufen hast.“ Der Sarkasmus hilft.

 

Er lacht trocken auf. „Stimmt. Ich hätte mir das vorher überlegen können.“

 

„Hättest du“, sage ich und lasse offen, ob ich damit seine Sprachlosigkeit oder den Kuss meine. So wie er es auch offengelassen hat.

 

„Kristina, es tut mir leid. Das, was du in diesem Video gesehen hast … Das war nicht echt.“

 

Seine Stimme ist leise und dünn. Ich schlucke, weil ich nur deshalb kurz davor bin kleinbeizugeben. Aber so einfach darf ich es ihm – und mir – nicht machen.

„Aber wieso …?“

 

„Ich wollte das nicht. Mein Vater hat mich gezwungen, bei dieser blöden Folge mitzuspielen. Im Drehbuch stand, dass Fiona und ich uns im Pavillon treffen und ein bisschen reden. Mehr nicht. Sie hat eigenmächtig mehr daraus gemacht.“

 

„Und du hast nicht zurückgeküsst?“ Ich höre selbst, wie bitter ich klinge. Aber die Worte sind raus.

 

„Nein! Also... ich war so verdammt überrumpelt. Es waren nur zwei Sekunden. Aber die Kameras hatten es natürlich drauf.“ Wieder lacht er freudlos auf. Ein Lachen, das ich nicht erwidern kann.

 

„Wieso hast du mir nichts gesagt?“

 

Stille. So lange, dass ich kurz denke, er hätte aufgelegt.

 

„Ich konnte nicht …“ Er bricht ab.

 

„Weil?“

 

Noah seufzt. „Es ist … kompliziert. Es geht nicht nur um mich. Ich kann dir das gerade nicht erklären.“

 

Jetzt lache ich doch auf. „Kompliziert, klar. Ist das die neue Version von Du hast recht, aber ich will’s nicht zugeben?“

 

„Nein.“ Seine Antwort kommt so schnell und laut, dass ich vor Schreck beinah das Handy fallen lasse. „Ich weiß, wie das für dich klingen muss. Und ich hasse es, dass ich dir nicht alles sagen kann. Aber wenn ich es tun würde, würde ich jemandem Unrecht tun. Jemanden, den ich beschützen muss.“

 

Er ist mit jedem Wort leiser geworden, während mein Herz mit jeder Silbe heftiger und lauter zu pochen scheint. Ich lehne den Kopf an die Wand und schließe für einen Moment die Augen.

 

„Du verlangst viel von mir, wenn ich dir das jetzt einfach alles so glauben soll, Noah.“

 

„Ich weiß, und es tut mir wirklich leid.“ Wieder ein Seufzen, ein langes, gepresstes Atmen.

 

„Ich versichere dir, mit Fiona läuft nichts. Das, was zwischen dir und mir war, war echt.“

 

„War?“

 

Noah flucht unterdrückt. „Ist da noch was? Von dir?“

 

Ich seufze. Da ist viel zu viel. Nur deshalb tut es so weh. Das heiße Brennen in meiner Kehle, das ich bis eben unterdrücken konnte, bricht sich nun Bahn, sodass ich meine Antwort nur flüstern kann. „Ja.“

 

„Danke. Ich möchte auch, dass es weitergeht mit uns, obwohl ich es nicht darf.“

 

Bis eben habe ich nicht gewusst, wie leise ein Mensch flüstern kann. Aber seine Worte erreichen mich. Gehen tief. Viel zu tief. Und ich wünschte, ich hätte nicht verstanden, was er meint. 

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