Kapitel 1 - Endlich wieder live

Freddy

„Toll, dass ihr heute Abend hier seid! Wir sind Escape. Lasst uns gemeinsam ausbrechen.“

Applaus brandet auf und ich schließe für einen Augenblick die Augen, ehe ich den ersten Akkord anschlage. Mann, was habe ich das vermisst! Auf der Bühne stehen, meine Musik mit anderen Menschen teilen.

Ganz kurz wollen Zweifel in mir aufkommen. Ob wir das nach Monaten ohne Konzerte überhaupt noch können. Aber sobald ich die Saiten auf den Gitarrenhals drücke, und meine andere Hand wie automatisch rhythmisch über die Saiten schlägt, weiß ich, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche. Es läuft. Noch ein kurzer Blick zu Ben, der mit seiner Gitarre zwei Meter neben mir steht. Er grinst und nickt mir zu. Dann dreht er sich zum Mikro.

You find so many people talking

'bout what they consider right and wrong

but when the shit has hit the fan

you’ll find people leaving you

leaving you alone.

 

In Gedanken singe ich die erste Strophe mit, spüre jedem Ton und jeder Silbe der Lyrics nach. Zur Bridge steige ich mit der zweiten Stimme ein und lasse im Licht der Scheinwerfer meinen Blick über die Leute wandern. Ich bin etwas geblendet und kann sie teilweise nur schemenhaft erkennen. Aber ich sehe deutlich, dass sie sich im Takt unserer Musik hin und her bewegen, ein paar halten sogar ihre Smartphones in die Höhe und machen Fotos oder Videos. Wenn ich nicht Gitarre spielen müsste, würde ich mich jetzt kneifen. Ob sie die Bilder auf ihren Accounts in den Social Media teilen? Ich sollte besser nicht zu viel darüber nachdenken, sonst werde ich doch noch nervös. Zwischen all den Köpfen versuche ich, mir eine Person herauszupicken. Es ist leichter, stellvertretend für eine Person zu singen, als mich auf alle gleichzeitig zu konzentrieren. Mein Blick bleibt an einem Mädchen hängen, das am anderen Ende des Saals nahe des Mischpults steht. Sie hält sich etwas abseits von anderen Besuchern, bewegt sich verhalten im Takt, als ob sie sich nicht sicher wäre, ob sie tanzen dürfte. Ihre Augen sind jedoch aufmerksam auf uns gerichtet.

 

Das ist sie! Für sie werde ich heute Abend spielen.

 

Vielleicht bekomme ich sie dazu, ausgelassen zu tanzen, ein Stück von der Wand vorzutreten und sich den anderen im Publikum zuzuwenden. Ich schicke ein Lächeln über die Köpfe der anderen Konzertbesucher hinweg bis zu ihr, sehe sie an, während ich den Refrain mitsinge.

 

I wish I’d been an ally,

I wish I would’ve stayed

But there ain’t always second chances

For the one who betrayed.

 

Vielleicht nicht die allerbesten Worte, um Kontakt aufzunehmen, schießt es mir durch den Kopf. Aber das Mädchen erwidert mein Lächeln, zaghaft noch, aber ich bilde mir ein, dass es meinetwegen ist. In ihren Wangen bilden sich sanfte Grübchen. Blödsinn, das bilde ich mir jetzt wirklich ein. Als ob ich das von hier aus sehen könnte!

Egal. Die Vorstellung gefällt mir.

Die ersten drei Songs unseres Sets sind ziemlich rockig, um uns und das Publikum warm zu kriegen. Es klappt. Beim zweiten Song klatschen alle im Takt, soweit ich das sehen kann. Beim dritten hüpfen sie mit erhobenen Händen sogar auf und ab. Ich hüpfe mit, auch wenn ich dabei nicht mehr so gezielt ins Mikro singen kann. Ich versuche es trotzdem.

 

You can try to tame the dragon,

But you can’t put out its fire.

 

Kristina und Johnny wiederholen mit den Backingvocals den Refrain, Ben und ich wiederholen derweil immer wieder eine Zeile.

Burn, burn, burn. It will burn, burn, burn.

Ich ziehe das Mikro aus dem Ständer und halte es zum Publikum. Die Leute hüpfen noch immer, klatschen, und singen das Burn, burn, burn ausgelassen mit. Mein Lachen wird breiter. Was hat mir das gefehlt! Diese Stimmung, und das schon beim dritten Song! Heiße Energie durchflutet mich, kribbelt in meinen Fingerspitzen und bringt etwas in meiner Magengegend zum Flattern. Ich suche hinter der tanzenden Masse nach dem Mädchen am anderen Ende des Saals. Weil dauernd jemand in mein Blickfeld springt, dauert es etwas, bis ich sie sehe. Sie steht noch immer etwas abseits von den anderen und sie tanzt auch nicht ausgelassen, aber auf ihrem Gesicht liegt ein Lächeln und ihre Lippen formen die Worte des Refrains.

 

Yes, sie singt mit! Sie wird auch noch tanzen!

 

Ich stecke das Mikro zurück in die Halterung und schlage ein paar sanftere Töne an. Die nächsten Lieder werden ruhiger. Zeit, den Puls etwas zur Ruhe kommen zu lassen. Und in Ruhe diese eine Konzertbesucherin anzusehen. Nicht lüstern. Ich bin kein Frauenheld, der auf Groupies aus ist. Ich will nichts von ihr. Wobei mir ihr Lächeln wirklich gefällt. Schade, dass ich von hier aus nicht erkennen kann, ob es ihre Augen erreicht. Sie scheint jedenfalls eher ein Typ für ruhigere Töne zu sein, denn als wir eine Ballade anstimmen, löst sie sich von der Wand und macht ein paar Schritte auf die letzte Reihe zu.

 

Don’t you worry,

tonight I’ll watch your sleep.

 

Sie kann es nicht wissen, dass mein Lächeln bei diesen Zeilen nicht nur ihr gilt. Niemand außer mir weiß es. Trotzdem macht es mich glücklich, als sie beim zweiten Refrain gemeinsam mit den anderen ihre Arme hebt und sie im sanften Rhythmus hin und her wiegt. Das lasse ich als Tanzen durchgehen.

Ob sie mein Zwinkern bemerkt, oder geht es im Licht der Scheinwerfer unter? Sie bleibt nach dem Song bei den anderen stehen, reiht sich ein.

„Danke schön. Wir haben noch einen Song für euch, mit dem wir euch in den Abend und die neue Woche schicken.“

Ich zucke zusammen, als Ben die letzte Nummer ankündigt. Das Konzert ist nur so vorbeigerauscht. Warum geht das immer so schnell? Mir bleibt keine Zeit, mich darüber zu wundern oder zu trauern. Joshie gibt den Takt vor und heizt uns und dem Publikum mächtig ein. Wie immer machen wir uns einen Spaß daraus, am Ende des Songs schneller zu werden, sodass das rhythmische Klatschen der Leute in ein Rauschen übergeht.

 

„Run until you fly, run until you fly!”

 

Sie singen sogar noch, als wir uns verbeugen und schließlich winkend von der Bühne gehen. Der Backstage ist nicht mehr als das Nebenzimmer, in dem sonst tagsüber gekickert oder Tischtennis gespielt wird. So können wir den Applaus und die Jubelrufe gut hören.

Lachend fallen wir uns in die Arme.

„Wow, das war mega“, ruft Kristina. Sie wirft ihren langen Pferdeschwanz über die Schulter und wischt sich eine lose Strähne aus dem Gesicht.

Joshie hat ihre Sticks noch in der Hand, wie eigentlich immer. Manchmal frage ich mich, ob sie die auch mit ins Bett nimmt. Ihre dunklen Augen leuchten und mit breitem Grinsen lehnt sie sich auf meine und Kris‘ Schultern.

„Lass uns nicht mehr so lange warten bis zum nächsten Gig!“

Sie spricht mir aus der Seele. Der Bühnenentzug war lang genug. Obwohl ich unsere Bandproben und Jamsessions auch total genieße, geht nichts über ein Konzert. Besonders wenn es so läuft wie heute.

„Ja, das kann man bei Gelegenheit mal wiederholen“, sagt Johnny scheinbar unbeeindruckt und rückt sein Basecap zurecht.

„Spinner!“ Ich boxe meinem besten Freund gegen die Schulter. Er verzieht den Mund, was bei ihm so viel ist wie ein Lachen.

 

Bevor wir uns in Frotzeleien verlieren können, klatscht Ben in die Hände und treibt uns zurück zur Bühne. In einer halben Stunde findet das zweite Konzert dieses Abends statt, leider nicht von uns, sondern von Butter bei die Fische. Zugegeben, die Jungs machen auch gute Musik, aber ich hätte nichts dagegen, noch ein Set zu spielen. Stattdessen folge ich Ben, Johnny und Kris zur Bühne, wo wir unsere Instrumente und die Setlists einsammeln, um der nachfolgenden Band Platz zu machen.

Die meisten Besucher haben den Saal verlassen, sind wahrscheinlich draußen, um zu rauchen oder holen sich an der Bar etwas zu trinken. Ein paar vereinzelte Leute stehen allerdings noch in kleinen Gruppen zusammen. Unwillkürlich halte ich nach dem Mädchen aus der letzten Reihe Ausschau, kann sie jedoch nirgends entdecken.

Zurück im Backstage packe ich meine Gitarren in ihre Softcases. Der Stoff ist an den Ecken schon ziemlich ausgefranst. Es wird mal Zeit für etwas Neues. Am besten ein Hardcase. Aber das ist auf der Prioritätenliste leider ziemlich weit unten. Ich schüttle den Kopf. Daran will ich jetzt nicht denken.

Johnny zieht eine Flasche Cola aus dem Kasten an der Wand und hält auch mir eine hin.

 

„Hey Freddy, bleibst du noch zum zweiten Teil?“

 

Es zuckt in meinen Fingern. Wie gern würde ich einfach die Cola nehmen und mir mit den anderen den Gig von Butter bei die Fische anhören. Aber das ist unmöglich. Vier Stunden bin ich schon hier. Vier Stunden, in denen ich meinen Alltag vergessen durfte. Jetzt muss ich in die Realität zurück.

Ich schließe die Augen und schüttle den Kopf. „Sorry, ich muss nach Hause.“

Johnny beißt sich auf die Unterlippe, nickt verständnisvoll. Er hat meine Antwort vorausgesehen. Ich bleibe nie.

„Okay. Na dann. Mach’s gut. Wir sehen uns Donnerstag.“

Ich nicke, schultere meine E-Gitarre und nehme die Westerngitarre in die Hand. Mit einem kurzen angedeuteten Winken verlasse ich den Raum. Wie ich das hasse. Warum kann ich nicht einfach mit den anderen noch eine gute Zeit verbringen?

Ich durchquere den Saal, sehe aus den Augenwinkeln die Jungs der nachfolgenden Band ihre Instrumente aufbauen. Entschieden schaue ich in die andere Richtung, es tut zu weh. Dafür fällt mein Blick nun auf Samuel, den Bundesfreiwilligen hier im Fleet 21. Er unterhält sich mit einem Mädchen. Genauer, mit ihr! Sie scheinen sich zu kennen. Ob sie seinetwegen hier ist?

Es piekst unangenehm in meiner Brust und ich schließe die Hand um den Griff des Gitarrencases unwillkürlich fester. Es sollte mich nicht stören, dass die beiden miteinander reden. Sie war heute Abend lediglich mein Fixpunkt, den ich mir aus der Menge gesucht habe. Nicht mehr und nicht weniger.

Samuel hat mich gesehen und winkt mir zu. Das Mädchen dreht sich um. Ein Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. So wie eben beim Konzert. Ich lächle zurück, aber es fällt mir schwerer als zuvor.

„Ciao“, rufe ich, dann sehe ich zu, dass ich zur Bahn komme.

 

Mama und Finn sitzen auf dem Sofa und schauen eine Doku.

 

Irgendetwas mit Dschungel, wie ich nach einem schnellen Blick vermute.

„Hey“, sage ich und stelle die Gitarren an der Wand ab.

Mein Bruder hebt nur kurz die Hand, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen.

„Hallo Freddy, da bist du ja schon wieder.“ Mama sieht mich an und lächelt mit einem Auge. Eine Kunst, die wir in unserer Familie alle beherrschen. Ein Auge lacht, während das andere bekümmert dreinschaut. Das mir sagt, wie froh sie ist, dass ich wieder zurück bin, obwohl ich viel länger hätte wegbleiben wollen.

„Es sind noch Nudeln da, wenn du möchtest.“

Ich schüttle den Kopf. Ich habe im Fleet21 etwas gegessen, die Nudeln kann ich für meine Mittagspause übermorgen aufsparen.

Finn rückt ein Stück zur Seite und ich setze mich neben ihn. Die Doku zeigt Bilder von einem Faultier, das unter einem Ast hängt. Ein friedliches Bild. So wie wir, wenn man uns jetzt fotografieren würde. Eine Familie, die gemeinsam fernsieht.

 

Nur wir wissen, dass das Foto die Wahrheit nicht abbilden würde.

 

Mama richtet sich ein Stück auf, beugt sich nach vorne zum Couchtisch, sinkt aber schon nach wenigen Zentimetern wieder zurück in die Kissen, die sie sich in den Rücken geschoben hat. Der Schmerz verzieht ihr Gesicht. Finn und ich reagieren gleichzeitig. Mein Bruder ist jedoch schneller und reicht Mama das Wasserglas, nach dem sie sich ausgestreckt hat. Sie trinkt und versucht sich an einem neuen Lächeln.

„Wie war euer Konzert?“

„Cool, es war super besucht, und die Leute haben getanzt.“ Ich sage die Leute, aber vor meinem inneren Auge erscheint wieder das Bild des Mädchens, das hinten an der Wand stand. Das zuletzt mit Samuel gequatscht hat. Wieder ist da dieses Stechen, das ich mir nicht erklären kann. „Hat Spaß gemacht, wieder einen Gig zu spielen“, sage ich schnell.

„Schön, das freut mich. Beim nächsten Mal komme ich auch mit.“ Mama lächelt, aber obwohl ich weiß, wie sehr sie sich bemüht, erreicht auch dieses Lächeln nur ein Auge. Scheiße, wie sehr ich mir wünsche, dass ihr Versprechen kein unerreichbarer Traum wäre! Trotzdem nicke ich.

„Aber jetzt muss ich erstmal ins Bett, war ein langer Tag heute“, sagt Mama. Ganz langsam steht sie auf, noch langsamer als das verdammte Faultier in der Doku. Ihre Knöchel treten weiß hervor, als sie sich auf der Sofakante abstützt. Als sie endlich steht, glitzert Schweiß auf ihrer Stirn. Wir tauschen einen kurzen Blick.

 

Sie kommt klar. Es dauert, aber sie kommt klar.

 

„Macht nicht mehr so lang“, bittet sie uns, ehe sie ins Bad geht.

Finn nickt. „Ist gleich eh vorbei.“

„Wie lief’s heute Abend?“, frage ich meinen Bruder, nachdem Mama die Badezimmertür hinter sich geschlossen hat.

Er zuckt die Schultern. „Okay. Sie war ne Stunde später zuhause. Seitdem hat sie auf’m Sofa gelegen. Ich hab gekocht.“

„Super, danke.“ Ich bin stolz auf meinen kleinen Bruder, aber ich wär froh, wenn ich es aus anderen Gründen sein könnte.

Im Dschungel bricht im Zeitraffer ein neuer Morgen an, die Doku endet. Und während Finn in unserem gemeinsamen Zimmer verschwindet, verpacke ich die Reste vom Abendessen und räume die Küche auf, ehe ich mir mein Ausbildungsheft schnappe und mich damit aufs Sofa setze. Die Euphorie vom Konzert ist nur noch ein Glimmen. Diese Welt hier, in die ich zurückgekehrt bin, hat sie innerhalb von Minuten erstickt.

 

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