Kapitel 2 - Zwölftonmusik zum Abiball

Judith

„Sollen wir uns gleich noch zur Planung in der Cafeteria treffen?“

Meine Frage wird vom Pausengong und Melanies Augenrollen begleitet. Auch Oksana und Kilian machen sich nicht die Mühe mir zu antworten, sondern stopfen ihre Hefter in ihre Taschen. Lediglich Lili nickt kurz, wirkt aber ebenfalls desinteressiert.

„Okay, nach der sechsten.“ Sagt es und verlässt hinter Melanie den Klassenraum.

Ich schaue ihnen nach, ehe ich meine eigenen Sachen zusammenpacke. War das jetzt eine konkrete Zusage von Lili? Sind die anderen auch dabei? Warum hat sich niemand bemüht, mir eine Antwort zu geben?

„Ist noch was, Judith, oder darf ich abschließen?“

 

Mein Englischlehrer steht mit dem Schlüssel in der Hand an der Tür und sieht mich ungeduldig an. Ich spüre, wie mir Hitze ins Gesicht schießt, und springe, eine Entschuldigung murmelnd, auf.

Ich habe nicht damit gerechnet, dass irgendjemand aus meinem Kurs draußen auf mich gewartet hätte, trotzdem kommt mir der Flur noch leerer als sonst vor und ich haste nach draußen auf den Schulhof.

Zum Glück muss ich nicht lange suchen, bis ich Helena entdecke. Sie steht breitbeinig über ihrer Sporttasche und quatscht mit Jens.

„Hi.“ Ich stellte mich dazu und nehme meine beste Freundin in den Arm. Helena erwidert die Geste, während Jens nach seiner Sporttasche greift, die neben ihm auf dem Boden steht.

„Na ja, ich muss“, sagt er, deutet ein Winken an und wendet sich ab.

Augenblicklich macht sich ein schlechtes Gewissen in mir breit. „Oh, sorry, ich wollte euch nicht stören.“

Helena winkt ab. „Hast du nicht“, sagt sie, allerdings etwas zu schnell, sodass ich das Gefühl nicht loswerde, Jens könnte doch meinetwegen gegangen sein. Ich kann mir zwar nicht denken, warum, aber irgendwie würde es mich nach den Erlebnissen der letzten beiden Wochen nicht mehr wundern.

„Wie war Sport?“, frage ich, um das Thema zu wechseln.

„Anstrengend.“ Wie um ihre Antwort zu unterstreichen, lässt Helena sich stöhnend auf meine Schulter sinken. „Fünf Kilometer Ausdauer und dann noch Weitsprung. Echt nicht das, was ich montagsmorgens brauche.“

 

„Vorsicht bei der LK-Wahl“, necke ich sie.

 

„Dafür ist es jetzt wohl zu spät“, erwidert Helena schulterzuckend und angelt eine Wasserflasche aus ihrer Sporttasche. „Und bei dir?“

Unwillkürlich zucke ich zusammen. Es ist lieb, dass sie fragt, aber gerade heute wünschte ich, sie hätte es nicht getan. Am liebsten würde ich die Erinnerung an die vergangene Doppelstunde aus meinem Gedächtnis verbannen. Aber Mellis Augenrollen und die Blicke der anderen haben sich eingebrannt. Der Grund ist mir allerdings immer noch nicht klar.

„Nicht weiter aufregend“, sage ich dennoch. Vielleicht habe ich mir ja auch alles nur eingebildet. „Willms hat uns in Projektgruppen eingeteilt. Wir sollen jeweils eine Sehenswürdigkeit für die LK-Fahrt vorstellen.“

„Cool, was macht deine Gruppe?“

„Gloucester Cathedral.“

Das Gesicht meiner besten Freundin zeigt deutlich, dass sie davon genauso wenig Ahnung hat wie ich. Unser Lehrer hat die Orte auf Zettel geschrieben, die er uns verdeckt hat ziehen lassen. Wahrscheinlich wusste er, dass sich andernfalls alle auf Westminster Abbey gestürzt hätten. Ich bin ehrlich gesagt ganz froh, dass ich mich noch nicht mit London beschäftigen muss. Von den Städten, die wir auf unserer LK-Fahrt in ein paar Wochen ansteuern werden, reizt mich die britische Hauptstadt bislang am wenigsten. Aber sei es drum. Für die Projektarbeit ist es vermutlich egal. In den anderen Gruppen wäre ich nicht besser aufgehoben. Ich schlucke die Bitterkeit runter, die in mir aufsteigt. In den nächsten vier Stunden habe ich Helena an meiner Seite. Und der Rest findet sich.

Außerdem steht als nächstes eine Doppelstunde Musik auf dem Plan. Die erste in diesem Schuljahr, da unser Lehrer prompt die ersten beiden Wochen krank war.

Als er nun den Schulflur entlangschreitet und uns die Tür zum Musiksaal aufschließt, ist davon allerdings nichts mehr zu sehen.

 

„So, ihr Süßen, nun beginnt das Finale“, sagt er, nachdem sich das erste Gewusel nach der Platzsuche gelegt hat.

 

Ein paar Leute kichern höflich über seinen Witz. Bert von Ophoven hat einen speziellen Humor und neigt dazu, alles zu verniedlichen. Sein Unterricht ist in der Regel aber ganz gut.

„Ich habe euch zur Einstimmung etwas ganz Besonderes mitgebracht.“ Er schaltet die Bluetooth-Box auf dem Pult ein und drückt auf seinem Smartphone herum. „Macht es euch bequem und lasst euch einfach mal darauf ein.“

Wir lehnen uns zurück. Nach nur einer Minute ist es mit der Entspannung allerdings vorbei.

„Was zur Hölle ist das denn?“ Helena macht sich nicht die Mühe, die Hand vor den Mund zu halten und ihre Stimme zu dämpfen.

„Alter, hat man da die unmusikalischsten Menschen der Welt auf Instrumente losgelassen?“, fragt Kai.

Von Ophoven hebt die Hände und bittet mit einer Geste um Ruhe. Wir hören weiter dem plätschernden Klavier und einer irgendwie verstimmt klingenden Geige und einer Flöte zu. Das wäre ja noch irgendwie zu ertragen, wenn da nicht der Gesang wäre. Wenn man das denn so nennen mag. Es klingt, als würde ein Gespenst Walisch sprechen. Vom Text ist kaum etwas zu verstehen. Ich bin aber auch zu abgelenkt von den Instrumenten, weil ich versuche, eine Melodie zu erkennen.

 

„Hurts“, ruft Leni dazwischen.

 

Wir brechen in Gelächter aus und unser Musiklehrer stoppt die Aufnahme und sieht vorwurfsvoll in die Runde. „Kinder, wie alt seid ihr eigentlich?“

„Sorry, aber das ist echt … schräg“, sagt Greta, was wirklich etwas heißen soll, denn Greta hat einen sehr außergewöhnlichen Musikgeschmack.

„Das, meine Lieben, war der Anfang von Pierrot lunaire von Arnold Schönberg. Es handelt sich um Zwölftonmusik.“

In von Ophovens Augen leuchtet es. Ist er wirklich begeistert oder spielt er uns nur etwas vor, um uns zu begeistern? In dem Fall bin ich mir nicht sicher, ob es funktioniert.

„Damit beschäftigen wir uns jetzt aber hoffentlich nicht das ganze Schuljahr?“, fragt Kai entsetzt.

Herr von Ophoven strahlt uns an. „Diskussionsstoff gäbe es wohl genug, wenn ich mir eure rege Beteiligung so ansehe. – Aber ich kann euch beruhigen, das war nur ein Test, um eure Aufmerksamkeit zu bekommen. Unser Thema in den nächsten Wochen lautet: Wie fängt Musik unsere Aufmerksamkeit?“

Um diese Frage einzuleiten, musste es ausgerechnet Zwölftonmusik sein? Die Musik war irritierend, aber sie übertönt zum Glück nicht die Lieder, die mir seit Samstagabend nicht mehr aus dem Kopf gehen. Das Konzert von Escape klingt noch immer in mir nach. Und nicht nur die Songs, um ehrlich zu sein, auch das Lächeln des Sängers.

 

Irgendwie hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, als würde er nur mich ansehen.

 

Aber das ist wahrscheinlich Quatsch. Dieser Freddy, und auch Ben, der andere Sänger, wirkten wie Profis. Wahrscheinlich können sie jedem einzelnen Konzertbesucher diesen Eindruck vermitteln. Trotzdem mag ich den Gedanken, er könnte doch nur für mich gesungen haben.

„Hallo, Erde an Judith.“

Ich zucke zusammen als Helena mit der Hand vor meinem Gesicht auf und ab winkt. Verwundert stelle ich fest, dass der Großteil unserer Kurskameraden den Raum verlassen hat. Was ist heute nur los mit mir? Ich bin doch sonst nicht so langsam.

„Sorry, ich war in Gedanken.“

Helena lacht. „Offensichtlich.“

In den nächsten beiden Stunden bleibt mir zum Glück keine Gelegenheit, meine Gedanken schweifen zu lassen, als unsere Mathelehrerin uns mit Vektorrechnungen versorgt, die sich gewaschen haben.

„Nenn mir einen guten Grund, nicht vom Balkon zu springen“, sagt Helena und bricht seufzend über ihrem Collegeblock zusammen.

„Unsere Schule hat keinen Balkon.“

„Das ist kein guter Grund, das ist ein zusätzliches Drama.“

Meine beste Freundin hebt langsam wieder den Kopf und kritzelt ein paar weitere Zahlen aufs Papier. Ich helfe ihr so gut ich kann, bin bei einer Aufgabe allerdings auch ratlos. Helena ist offensichtlich erleichtert, als die Stunde endlich vorbei ist, und verabschiedet sich mit einer Umarmung von mir, ehe sie zum Geschichtskurs aufbricht. Ich würde ihre Erleichterung gern teilen, aber irgendetwas zieht sich in meinem Magen unangenehm zusammen.

 

Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass das Treffen mit meiner Projektgruppe eine Katastrophe wird?

 

Vielleicht sollte ich einfach darauf pfeifen. Schließlich haben die anderen, bis auf Lili, gar nicht zugesagt und sind überhaupt nicht da. Ich könnte direkt nach Hause gehen. Aber ein Anflug von Trotz steigt in mir auf. Einknicken ist keine Option. Also schlucke ich das komische Gefühl runter, schultere meine Tasche und mache mich auf den Weg zur Cafeteria.

Es überrascht mich, dass meine Gruppe mit ein paar anderen aus unserer Stufe tatsächlich bereits um einen Tisch versammelt ist. Oksana trinkt einen Smoothie und hängt an Kilians Lippen, der offenbar etwas Witziges erzählt. Jedenfalls kichern sie und Melanie immer wieder. Lili tippt auf ihrem Handy herum.

„Hi“, sage ich und ziehe einen freien Stuhl vom Nachbartisch heran.

Die anderen reagieren weder auf meine Begrüßung, noch mache irgendjemand Anstalten, ein Stück zur Seite zu rücken. Trage ich etwa einen Tarnumhang oder was ist los? Der bittere Geschmack, den ich gerade erst losgeworden bin, liegt mir augenblicklich wieder auf der Zunge und mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen.

„ … so geil, der Türsteher hat mich echt reingelassen“, sagt Kilian.

„Krass! Nimmst du mich nächstes Mal mit?“ Oksana klimpert mit ihren Augenbrauen und Kilian schenkt ihr ein gewinnendes Lächeln, das allerdings mehr auf ihre Brüste gerichtet ist. „Klar. Dich lassen sie auf jeden Fall rein.“

Wenn mir nicht schon schlecht wäre, würde sich mir spätestens jetzt der Magen umdrehen. Merkt Oksana nicht, wie oberflächlich er ist? Ich beiße mir auf die Lippe. Denke ich das vielleicht nur, weil ich selbst auch gern gefragt würde? Vielleicht bin ich nur eifersüchtig?

Kilian scheint Oksana beinahe in den Ausschnitt zu kriechen.

 

Nein. Ich bin definitiv nicht eifersüchtig!

 

Ich räuspere mich.

„Sollen wir kurz absprechen, wie wir die Projektarbeit aufteilen?“

Melanie dreht sich kurz zu mir um, zuckt die Schultern und wendet sich wieder ab und zieht ihr Smartphone aus der Tasche. Über ihre Schulter hinweg sehe ich sie durch Pinterest scrollen. Okay, sie wird mir schonmal keine Antwort geben. Dafür sieht Lili von ihrem Handy auf.

„Wikipedia sagt, das ist eine der bedeutendsten Kirchenbauten Englands“, sagt sie.

„Na dann ist das ja voll Judiths Thema. Mit Kirche kennt sie sich doch aus“, meint Kilian, ohne den Blick von Oksanas Busen abzuwenden.

Ein Stechen durchfährt meinen Körper und in meiner Kehle beginnt es zu brennen. Schon wieder so ein Kommentar. Gegen Ende des letzten Schuljahres habe ich immer mal wieder Sprüche in diese Richtung gehört. Aber ich hätte gehofft, dass sich das über die Ferien erschöpft. Offenbar sinnloses Wunschdenken.

„Ich kann gern etwas zur Historie vorbereiten“, sage ich, um eine feste Stimme bemüht. Vor den anderen will ich mir nicht die Blöße geben.

„Hm“, erwidert Oksana abwesend und nimmt einen Schluck aus ihrem Smoothieglas, wobei sie lasziv über die Kante leckt.

Melanie hält Lili ihr Handy hin. „Guck mal, solche Hussen hatten die in Potsdam bei dem Ball. Das wär sooo geil, wenn wir die für den Abiball kriegen könnten.“

Lili sieht auf Melanies Smartphone und reißt die Augen auf.

 

„Woah, voll schön. Die müssen wir echt bestellen!“

 

„Auf jeden! Und für die Tische so Blumengestecke mit Schleifen in den Schulfarben.“

„Habt ihr ein paar viele amerikanische Highschool-Filme geguckt?“, fragt Kilian und sieht Melanie und Lili skeptisch an.

„Ach, du hast ja keine Ahnung. Das wird mega“, entgegnet Melanie.

Prinzipiell würde ich meiner Klassenkameradin zustimmen, wenn ich mir hier nicht so fürchterlich überflüssig vorkommen würde. Zwar bin ich nicht im Vorbereitungsteam für den Abiball, was aber nicht heißt, dass ich uninteressiert wäre. Ich finde, den Abschluss der Schulzeit, darf man ruhig mit ein bisschen Prunk und meinetwegen auch Kitsch feiern.

Wenn man dabei nicht das fünfte Rad am Wagen ist.

Meine Projektgruppe hat nun ein ganz anderes Thema als die Gloucester Cathedral und diskutiert angeregt verschiedene Blumensorten, Schleifenfarben und die Vor- und Nachteile von echten Kerzen gegenüber Lichterketten. Dabei rücken sie mit den Stühlen noch enger zusammen, sodass ich endgültig in zweiter Reihe sitze und nur noch Melanies Rücken sehe.

Ich versuche gar nicht erst, mir noch einmal Gehör zu verschaffen. Mir ist auch diese blöde Projektarbeit herzlich egal. Ich will einfach nur hier weg.

 

Es fällt den anderen nicht einmal auf, dass ich aufstehe und die Cafeteria verlasse.

 

Oder es kümmert sie nicht. Ich kann es nicht verhindern, dass mir die Tränen in die Augen schießen, kaum dass ich auf den Schulhof trete. Was habe ich den anderen nur getan, dass sie nicht mehr mit mir reden oder nur gemeine Sprüche klopfen?

An den Fahrradständern werfe ich meine Schultasche in meinen Fahrradkorb und starte die Playlist, die ich seit Samstagabend immer wieder höre.

Heftig trete ich in die Pedale, während Escape mich anfeuert. Run, run run. Run until you fly. Wie schön wäre es, tatsächlich fliegen zu können. Einfach auf und davon.

Keep on fighting, you’ll fly high.

Meine Tränen trocknen langsam, während ich mich an den Worten beinahe fester halte als am Lenker. Aber es hilft. Die Musik und Bens und Freddys Gesang lassen mich tatsächlich glauben, dass alles gut werden kann. Ich muss weiter kämpfen.

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