Fuck. Fuck. Fuck. Kaum, dass ich hinter Jayden im Auto sitze und wieder auf dem Weg zum Flughafen bin, vergrabe ich mein Gesicht in den Händen und presse die Lippen aufeinander. Das war ja mal eine einzige Katastrophe.
Neben mir auf der Rückbank liegen die Noten, die Kristina mir mitgegeben hat, und die mich daran erinnern, was der eigentliche Sinn unseres Treffens war. Aber sonderlich erfolgreich war zumindest ich nicht. Kristina hat sich alle Mühe gegeben, glaube ich, nur vermutlich nicht mit meiner Unfähigkeit gerechnet.
In meiner Seite sticht es und mein Hals brennt wie Hölle. Trotzdem ziehe ich das Tempo auf den letzten Metern noch einmal an. Vorbei an der Bushaltestelle, links um die Ecke und schon kommt unser Haus in Sicht. Das Blut rauscht in meinen Ohren, mir ist schlecht und die Hände auf die Knie stützend beuge ich mich vor und ringe nach Luft. Das war neuer Rekord. Genau messen kann ich es nicht, weil ich meine Laufuhr im Bad habe liegen lassen, aber ein kurzer Blick auf mein Handy verrät mir, dass erst knappe vierzig Minuten vergangen sind, seit ich zu meiner 10-Kilometer-Runde aufgebrochen bin. Also bleiben immer noch drei Stunden bis zu meiner Verabredung mit Noah. Großartig!
„Yes!“ Ich balle die Hand zur Faust und ziehe sie in triumphierender Geste ruckartig nach unten, während meine Mundwinkel gen Ohren wandern und ich den Blick nicht vom Display meines Smartphones abwenden kann.
In der Halle ist es halbdunkel, noch drei Minuten bis zum Konzert. Unsere Crew checkt ein letztes Mal, ob wir richtig verkabelt sind, doch ich blende die Geräusche und das Gewusel um mich herum aus.
„Cut!“ Die Stimme des Regisseurs hallt von der nassen Backsteinmauer wider.
Ich schüttle mich. Seit dem frühen Morgen sind wir hier an der alten Lagerhalle am Hafen und drehen unser nächstes Musikvideo, und mittlerweile kann ich mir nicht mehr erklären, wieso ich mich jemals für das Drehbuch habe begeistern können. Ein Dreh im Regen. Wer ist auf diese bescheuerte Idee gekommen?
Regentropfen fließen in bizarren Mustern an der Fensterscheibe des Taxis hinunter, das mich zum Flughafen bringt. Typisches Londoner Wetter, ich werde es in den nächsten Tagen kaum vermissen. Genauso wenig wie alles andere, das ich hier zurücklasse. Okay, Marble ist die goldene Ausnahme. Mit ihr hätte ich gern noch mehr Zeit gehabt. Ich habe meine Zwillingsschwester das letzte Jahr über viel zu wenig gesehen.
Auf den Rest meiner Familie hätte ich allerdings spätestens seit gestern Abend schon wieder verzichten können. Aber wie üblich hatte Dad das Osterfest professionell durchgeplant und ein Skript für seine Social Media Aktivitäten, die beinahe sämtliche Familienmitglieder mit einschließen, geschrieben.
Eine Bucht mit tiefblauem Wasser, Felsen, die mystisch aus dem Wasser ragen und eine Burg, die auf einer Felseninsel thront. Ich muss Noahs Kommentar in seiner Instagram-Story recht geben – es gibt schlechtere Orte zum Arbeiten. Die kurzen Einblicke, die er vom Videodreh auf Sizilien geteilt hat, sind zwar alle vom offiziellen Five2Seven-Account, aber er hat sie mit seinen jeweils eigenen Sprüchen versehen. Ich lasse die Stories durchlaufen und schnipple gleichzeitig einen Apfel in meine Portion Haferflocken.
Vor dem Privatjet steht ein Kleinbus für uns bereit. Wir können praktisch aus dem Flugzeug direkt ins Auto fallen. Andy bleibt trotzdem kurz auf der obersten Treppenstufe stehen, breitet die Arme aus und ruft: „Bella Italia!“
Ich sehe über seine Schulter das Rollfeld entlang. Lange graue Gebäude, ein Tower, Asphalt und grüngelbe Grasstreifen dazwischen. Flughafen halt, auch die sehen irgendwie alle gleich aus. Aber vermutlich hat Andy recht, er freut sich schon seit zwei Wochen auf Italien.
Ben schlägt rhythmisch Akkorde, während Freddys Finger in atemberaubenden Tempo über den Hals seiner E-Gitarre fliegen. Ich werfe Martin neben mir einen raschen Blick zu. Unser Produzent zieht imponiert die Augenbrauen nach oben und die Mundwinkel nach unten und nickt.
„Ziemlich geil“, sagt er, als die beiden schließlich enden.
Ben und Freddy grinsen sich an und machen ein High-Five, Freddy deutet eine kleine Verbeugung an.
„Für das Album würde ich das Solo allerdings kürzen“, sage ich.
Es klopft von links. Falsche Richtung. Irritiert öffne ich die Augen und sehe mich um. Sitzecke, Fernseher, Schreibtisch, halboffene Tür zu einem Bad. Irgendein Hotelzimmer, kennt man eins, kennt man alle. Aber in welcher Stadt befinde ich mich?
Es klopft erneut.
„Ja?“, rufe ich, rapple mich auf und sehe mich nach meinem Handy um, in der naiven Hoffnung, dass das mir einen heißen Tipp geben kann, wo ich gerade bin. Leider kann ich das Gerät nicht finden. Verdammt.
Mit geschlossenen Augen lege ich den Kopf in den Nacken und atme tief durch, ehe ich den Schlüssel aus der Tasche hole und die Tür zu meinem Airbnb aufschließe. Es ist noch dämmrig, aber schon heller als vor einer halben Stunde, als ich losgelaufen bin. Dank der kühlen Luft bin ich jetzt auch wach.
Die anderen halten mich für bescheuert, dass ich mir diese frühmorgendlichen Laufrunden immer noch antue, und mein innerer Schweinehund hätte ihnen heute sogar recht gegeben.
„Hiergeblieben!“
Scott packt mich an der Schulter und zieht mich zurück in den Saal, wo sich die Leute beinahe stapeln. Gerade so einen Seufzer unterdrückend, werfe ich einen letzten sehnsüchtigen Blick Richtung Bar.
„Mann, ich hab‘ Durst.“
Grinsend drückt Scott mir eine kalte Halbliterflasche Wasser in die Hand. Wenn ich nicht zu genervt wäre, müsste ich ihm dafür eigentlich Respekt zollen. Woher hat er so plötzlich das Wasser? Und wie zur Hölle hat er es kalt gehalten?
„Hier sind für euch Escape mit Trust!“
Die letzten beiden Worte der Moderatorin gehen im Jubel der Menge unter und ich wünschte, ich hätte meine Noisecancelling-Kopfhörer, oder wenigstens die Inears. Aber wie die anderen Bands auch, spielen wir heute mal wieder Playback. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, aber Spaß macht es mir immer noch nicht.