Die Wohnung ist blitzsauber. Überall haben wir geputzt. Wir haben sogar die Bücher von den Regalbrettern genommen und die Regalböden ausgewischt und von den Kopfschnitten die dünne Staubschicht gepustet. Jetzt sitzen wir auf dem Sofa mit den frisch aufgeschüttelten Kissen. Wir trauen uns nicht richtig rumzulümmeln – dann wäre die penibel hergestellte Ordnung gleich wieder dahin.
Aber richtig gemütlich ist es irgendwie auch nicht mehr. Was sollen wir nur mit uns anfangen, in einer Wohnung, die so perfekt aufgeräumt ist, dass man – egal was man macht – eigentlich nur wieder Unordnung fabrizieren kann?
„Tja … schön!“, sagst du.
Du sitzt da, mit geradem Rücken, die Hände im Schoß und schaust dich so langsam um, als könnte eine zu rasche Bewegung bereits etwas umwerfen.
„Was jetzt?“
„Gibt es denn nichts mehr, das wir jetzt aufräumen können?“, fragst du.
Ich schüttle den Kopf, ganz langsam. Nein, wir haben nichts mehr, das wir machen könnten. Alles ist geputzt, gewischt, gewaschen und geschrubbt. Außer …
„Wir könnten den Kühlschrank und das Eisfach abtauen“, fällt mir in letzter Sekunde vor der Verzweiflung ein.
Deine Augen weiten sich und deine Mundwinkel wandern nach oben.
„Jaaaa!“, rufst du ausgelassen und springst auf.
Seit wir hier wohnen, haben wir noch NIE den Kühlschrank ausgeräumt und das Eisfach abgetaut. Hätten wir vielleicht mal sollen. Das wird uns klar, als wir die Tür zum Eisfach öffnen und in ein schier undurchdringliches Dickicht aus Eisstalaktiten blicken.
„Ob abtauen da reicht?“, frage ich mich laut.
„Soll ich lieber den Flammenwerfer aus dem Keller holen?“
„Oder eine Brechstange?“
„Haben wir nicht.“
Naja. Wird schon klappen. Erstmal alles ausräumen. Butter, Eier, Marmelade, Senf, Gemüse. Alles landet auf der blanken Arbeitsplatte. – Zumindest fast alles. Ein Ei fällt auf den Küchenboden.
„Wir hatten doch gerade geputzt!“, sagst du vorwurfsvoll und schüttelst den Kopf.
„Wenn wir Fußbodenheizung hätten, könnten wir auf dem Boden ein Spiegelei braten.“
Wir entscheiden uns gegen dieses Experiment.
Der Kühlschrank ist leer. Nun geht es an das Eisfach.
„Vielleicht hätten wir das Abtauen lieber auf einen Tag verschieben sollen, an dem wir keine Fischstäbchen im Eisfach haben. Wie sollen wir die denn jetzt kühl halten?“
„Warum haben wir überhaupt Fischstäbchen?“
Ich breche die vordersten Eiszapfen ab und lege ihn mit dem Fischstäbchenpaket und Eiswürfeln in eine Dose. Ich ziehe ein paar weitere Eiszapfen und eine Tüte Petersilie aus dem Eisfach.
„Alles raus?“, willst du wissen und hast die Hand schon am Temperaturregler.
Ich taste mit der Hand zwischen Eisbergen im Dunkel herum. Halt, da ist noch etwas. Eine Plastiktüte. Was kann das sein?
„Geht nicht raus, ist festgefroren.“
„Lass mich mal.“
Du steckst selbst die Hand ins Eisfach. Als du die Hand wieder hervorziehst, hältst du einen Plastikfetzen in der Hand.
„Na, das war ja erfolgreich …“
Es rumpelt in den Tiefen des Eisfachs und plötzlich kullern ein paar Blaubeeren zwischen den Eiszapfen hervor. Du lässt das Stück Plastiktüte fallen.
„Das sind doch …“
„ … die Blaubeeren, die wir in Finnland gesammelt haben!“, vervollständige ich deinen Satz.
In dem Urlaub vor fast zwei Jahren.
Es braucht nur einen kurzen Blick zwischen uns. Wir machen Finnlandurlaub. Hier und jetzt. Wir gehen in die Knie. Wie damals. Klauben nach den runden Beeren. Die Rücken schmerzen. In Gummistiefeln beugen wir uns vor den Sträuchern, pflücken eine Beere nach der nächsten von den kalten, feuchten Zweigen. Ich kann den Kiefernwald riechen, atme tief ein und schließe die Augen. Doch mein Blick bleibt grün. Und lila. Die kühlen Beeren platzen zwischen meinen Fingern. Herbe Süße auf meiner Zunge. Warme Sonnenstrahlen brechen zwischen den Zweigen hervor und erleuchten den frischen Saft auf unseren Händen. Diesen Moment werde ich immer erinnern. Ich stecke mitten im Sommer und weiß schon jetzt, dass ich diesen Sommer wieder und wieder erleben kann, auch im tiefsten Winter. Er ist in mir konserviert. Kein mitäpa jos* möglich. Die stärkste Seife wird das Lila nicht von meinen Händen waschen. Der dunkelste Winter kann das Grün nicht vertreiben. Das Licht bleibt.
Die Rückenschmerzen werden vergehen, werden geheilt von Lagerfeuer und Blaubeermuffins am klaren See, auf dessen Spiegeloberfläche ein Vogel landet.
Der Eimer füllt sich zusehends. Auf einigen der Beeren liegen noch Tautropfen. Wenn man hindurchsieht, erscheint die Beere noch viel größer. Der Wald spiegelt sich und offenbart ein Spektrum aus Farben und Wonne.
„Wir sollten auf jeden Fall ein paar Blaubeeren mit Schokolade überziehen“, schlägst du vor.
„Und dazu Joghurt“, füge ich hinzu.
Doch es geht nichts über frische Blaubeeren. Ich pflücke die letzte Beere vom Strauch und stecke sie mir in den Mund.
„Wie viele Beeren hast du schon genascht?“
Ich habe nicht gezählt.
„Du hast schon ganz rote Zähne“, erklärst du lachend.
Wenn deine Hände nicht mindestens genauso verfärbt und klebrig vom Saft der geplatzten Beeren wären, würdest du jetzt dein Handy hervornehmen und ein Foto von mir machen. Ich in Gummistiefel, Pullover und wirrem Haar – aber breit grinsend mit verschmiertem Mund und Zähnen. Wenn man Glück malen müsste, würde es genau so aussehen.
Wir nehmen unseren gut gefüllten Blaubeereimer und machen uns auf den Rückweg. Es ist nicht weit zum Mökki. Nur ein paar Minuten durch den Wald. Je näher wir der Hütte kommen, desto mehr Felsen und Findlinge säumen unseren Weg. Noch eine letzte Biegung; da liegt es vor uns. Unser kleines Mökki direkt am See.
Wir streifen die Gummistiefel vor der Tür ab und tragen unseren Blaubeereimer hinein. Der Teig für die Muffins ist schnell gemacht. Und während du zwei Hände voll Blaubeeren in geschmolzener Schokolade schwenkst, fülle ich Beeren und Teig in Muffinförmchen.
„Ich schau mal, ob wir einen Fisch in der Reuse haben“, kündigst du an und verlässt die Hütte wieder.
Ich koche Kaffee, setze mich auf die Bank vor der Hütte und schau dir zu, wie du dich am Seeufer niederkniest und die Reuse aus dem Wasser ziehst. Tatsächlich zappelt ein Fisch darin. Das Abendessen ist gesichert.
Der Fisch ist schnell ausgenommen und mariniert und brutzelt alsbald in der alten Pfanne über dem Gasherd. Die Muffins sind in der Zwischenzeit fertig gebacken und verbreiten einen verführerischen Duft.
Es ist kühler geworden am Seeufer und wir hüllen uns in unsere Pullover, ehe wir uns mit unserem frisch gebratenen Fisch und den Muffins auf die Restwärme eines großen Felsens setzen und auf den See hinausblicken. Über uns fliegen ein paar Seevögel, am Ufer der ein paar Hundertmeter entfernten Insel sitzt ein Angler in seinem Ruderboot. Der Fisch zergeht auf der Zunge wie Butter und hinterlässt einen leichten Nachgeschmack von Zitrone und frischen Kräutern. Der Himmel verfärbt sich von blau zu hellgrau und rotrosa gestreift. Stille legt sich über den See und uns, als die Sonne sich hinter der Insel versteckt.
Und wir sitzen hier und sind ewig. Im Wald schon geahnt und am Ufer bestätigt; das hier kann nicht vergehen. Ich schiebe dir eine schokoladenüberzogene Blaubeere zwischen die Zähne und du balancierst sie, lässt abwechselnd links und rechts deine Zunge daran entlangwandern und schleckst die Schokolade von einer Seite ab. Ich übernehme die andere Seite.
Prasseln weckt uns. Kühle Regentropfen schlagen auf uns auf und zerplatzen. Tropfen so dick wie Blaubeeren. Ich lache und du stimmst ein. Erst als wir beide ganz nass sind, gehen wir zurück in die Hütte.
Triefend stehen wir auf der Schwelle und schauen uns um.
Gemüse auf der Arbeitsplatte, eine Wasserlache vor dem Kühlschrank, lilarote Flecken auf den Fliesen. Auf dem Parkett die angetrockneten Spuren von Gummistiefeln.
„Ist das wirklich unser Mökki?“, fragst du.
„Es kommt mir bekannt vor“, erwidere ich lachend. „Und es ist das gemütlichste, das ich kenne.“
Du durchquerst mit ein paar Schritten den Raum, bleibst vor dem Kühlschrank stehen und beugst dich hinab.
„Schau mal, hier liegt noch eine finnische Blaubeere.“
*Mitäpa jos = finn. für Was wäre wenn